Erzählt von meiner Mama

Der dreißigste Mai 2001 war ein heißer Tag gewesen. Ich stand in der vollen Pracht meiner achtunddreißig  Wochen alten Schwangerschaft im Garten und goß die Blumen. Mit einer Hand versuchte ich, einen Lupinenkübel zu wässern, während ich mit der anderen meine zwanzig Monate alte Tochter Sarah davon abhielt, sich selbst einzuweichen. Plötzlich wurde ich etwas bläßlich und bekam riesengroße Augen. Uuuuuups, dachte ich – und das absolut Naheliegenste: Harninkontinenz.

Ich hatte zwar nicht gehustet, gelacht oder geniest, aber, meine Güte, in der Schwangerschaft kommt ja bekanntlich so alles mögliche vor.

Für den Abend hatten sich drei Freundinnen angemeldet, um auf der Terrasse den Kochkünsten eines nahegelegenen Italieners zu huldigen. Es versprach ein wunderschöner lauer Abend zu werden. Ich war in Hektik, denn die Nudelschlacht sollte ohne Sarah stattfinden, und vorher gab es noch einiges zu tun. Ich fluchte heftig über das Inkontinenzproblem, zog mich um und goß den Garten fertig. Dabei konzentrierte ich mich angestrengt auf meine Blase. Trotzdem wiederholte sich das Spielchen zehn Minuten später und ich wurde schon etwas stutziger. Außerdem hat man mit 111 cm Bauchumfang nur eine begrenzte Menge passender Unterhosen und wenig Lust, selbige unter Aufwendung akrobatischer Künste zu wechseln. Glücklicherweise fand sich noch so ein formschönes Teil in Größe 48/50. Unter Ächzen und Stöhnen kämpfte ich mich in die  wunderhübschen, zarten Streublümchen, stopfte eine Pampers hinein und brachte mein Kind ins Bett.  

Jede Frau, die jemals schwanger war, wird jetzt schreien: "He, das kann doch nur ein Blasensprung sein!" Doch die Hauptfigur in diesem Film dachte lediglich, sie hätte sich schlicht und ergreifend in die Hose gemacht. Als jedoch das Problem trotz äußerster Konzentration anhielt, dämmerte mir schon etwas. Wahrhaben wollte ich das Ganze aber auf keinen Fall. Erstens war mein Mann zu meiner nur mittelgroßen Freude auf Dienstreise in Warschau und zweitens, und das war wesentlich tragischer, würde in wenigen Minuten ein wunderbares italienisches Nudelgericht vor mir auf dem Tisch stehen. Wer will da schon an die Höchster Klinik und deren Küche denken.  

Trotz meiner Bestrebung, das Problem weit von mir zu schieben, rief ich meine Hebamme an. Deren Anrufbeantworter teilte mir mit frischer Stimme mit, daß sie am besten morgens in der Zeit zwischen acht Uhr und acht Uhr dreißig zu erreichen sei. Man könne aber auch... Ich legte auf, dachte nach und wählte die Nummer erneut. Das Thema Blasensprung streifte ich ganz kurz und bat ausführlich um Rat bei Inkontinenzproblemen.

Als meine Freundinnen mit den Nudeln und Pizzen eintrudelten, schilderte ich zwar meine Erlebnisse, wiegelte aber ab, denn was nicht sein durfte, konnte einfach nicht sein. Und so mampfte ich auf einer Pampers Baby Dry sitzend meine Spaghetti und genoß den Abend. Die Chance, daß man mir den frisch vollgeschlagenen Wanst aufschneiden würde, hielten wir für eher gering. Daher aß ich mit besonders großem Appetit. Zwischendurch stellte ich den Rasensprenger um und plauderte mit meinen Freundinnen. Wir waren gerade mit dem ausgesprochen leckeren Essen fertig, als das Telefon klingelte. 

Die Hebamme stellte ein paar Fragen, und meinte dann: "Klingt schwer nach Blasensprung – ich komme mal vorbei."

Das tat sie auch, allerdings war der Abend schon fortgeschritten und die Stimmung fröhlich – zumal sich die Telefonnummer meines Mannes in Warschau als die falsche herausgestellt hatte.

Der Sohn der Hebamme war mit dem letzten intakten Auto der Familie unterwegs gewesen und so hatte sich die gute Frau auf's Motorrad geschwungen. Dieses war aber diesen Sommer noch nicht zum Einsatz gekommen und mußte erst mal ausgemottet werden. Als dann auch noch das Visier des Motorradhelmes abgestaubt war, wäre sie um ein Haar ohne ihren Koffer losgezogen.  

Aber schließlich hatte sie es zu uns geschafft und kam inmitten der Knoblauchwolken, die noch über uns schwebten zu dem Schluß, daß es sich in der Tat um einen Blasensprung handelte und daß ich mich im Laufe der Nacht in ein Krankenhaus zu begeben hätte. Sie Stimmung sei zwar so gut, daß sie am liebsten eine Hausgeburt durchgeführt hätte, aber den geplanten Kaiserschnitt auf dem Wohnzimmertisch – nein, das wollte sie nun doch nicht. 

Wir riefen also meine Schwiegereltern an, die Sarah abholten. Die wunderte sich überhaupt nicht über den nächtlichen Menschenauflauf in unserer Wohnung, sondern freute sich über den überraschenden Anblick von Oma und Opa. Auf die Frage, ob sie bei denen schlafen wollte, reagierte sie mit großer Begeisterung. Statt einem tränenreichen Abschied winkte sie mir ein lässiges „Tschüß“ zu und verschwand. Ich schluckte. 

Nun begannen wir, meinen Mann in Warschau anzurufen – unter der richtigen Nummer, die wir inzwischen ausfindig gemacht hatten (Es lebe das Internet!).

Aber  - man ahnt es fast - der Gute war ausgeflogen. Mal so richtig mit den Kollegen ausgehen. Ojeh! Jo ist nie einer der ersten, der nach Hause geht, schon gar nicht, wenn es sich dabei um ein ödes Hotelzimmer handelt. 

Nachdem die Hebamme gegangen war, begann jede von uns das zu tun, was sie für wirklich wichtig hielt. Frauke suchte den frühesten Flug von Warschau nach Frankfurt heraus und stellte fest, daß noch ausreichend Plätze frei waren. Sie räumte den Müll weg und versuchte abwechselnd mit mir, Jo zu erreichen.  

Silke fragte den Inhalt meiner Kliniktasche ab und stellte fest, daß ich nur die Hälfte eingepackt hatte.  

Ina schüttelte den Kopf über mich, die ich doch das allerwichtigste tat: Ich surfte noch etwas im Internet und beantwortete ein paar Mails. Irgendwie dachte ich, solange wir nicht losfahren, ist das alles einfach noch nicht wahr. Ich wartete immer noch auf den Moment, in dem ich schweißgebadet aufwachen würde.

Man überzeugte mich dann doch, daß es Zeit würde, loszufahren. Jo hatten wir noch nicht erreicht, aber immer dringlicher werdende Botschaften auf seiner Hotelvoicemail hinterlassen. Man könnte sich jetzt schon fragen, wieso ein Papa so kurz vor dem Entbindungstermin ohne Handy  auf Dienstreise fährt. Die Antwort ist denkbar einfach: Weil das uncool ist und die Spannung dieser Geschichte versaut hätte!

Silke hatte sich schon bereit erklärt, notfalls als Ersatzpapa mit in den OP zu kommen.

Und so marschierten wir durch die Nachtaufnahme in die Klinik ein, wo man uns beim Anblick meiner Kurven und des Stillkissens unter meinem Arm locker zum Kreissaal durchwinkte. Mit dem Paßwort „Blasensprung“ ließ man mich dort auch prompt hinein und hängte mich ans CTG. Ich fragte vorsichtig, ob ich mein Handy einschalten dürfe und erklärte die Sache mit meinem Mann. Die Schwestern fanden das wohl recht witzig – ich langsam nicht mehr, denn es ging auf 2 Uhr zu.

Dann wurde ich untersucht, gezwickt und gezwackt und letztendlich auch gepiesackt. Der diensthabende Arzt hatte soviel Freude daran, die Hebamme zu schikanieren, daß er den Venenkatheder nicht richtig zuschraubte und mein wertvolles Blut auf den Boden tropfen ließ. Meine Bemerkung zu diesem Thema nannte er „eine besondere Art von Humor“. Humor!!! Dabei ging es um mein Leben! Daß ich auch immer dermaßen mißverstanden werde.

Wir einigten uns auf einen Kaiserschnitt um 10 Uhr morgens und schickte mich auf die Station. Nicht die, die ich mir ausgesucht hatte und es gab auch kein Einzelzimmer mehr. Aber wer darf schon nachts um zwei Uhr leckgeschlagen und mit einer Knoblauchfahne Ansprüche stellen? Meine Freundin begleitete mich noch dorthin und wurde Zeugin einer wirklich interessanten Begrüßung durch die Nachtschwester: „Ihr zweites Kind und der zweite Kaiserschnitt? – Du meine Güte!“ Ich weiß nicht, was die Frau mir damit sagen wollte, aber so richtig Mut machte es nicht.

Meine Freundin ging, die Zimmernachbarin tauchte auf. Wir schwätzten noch eine Weile und dann versuchte ich zu schlafen. Es ging nicht. Wer hätte das gedacht?

Als es hell wurde, versuchte ich zu lesen, wofür ich beim Wecken prompt geschimpft bekam. „Was machen Sie denn da, Sie sollen doch schlafen.“ So einen Rüffel habe ich zuletzt von meiner Mutter bekommen, als ich zehn war. Aber wer legt sich schon mit denLeuten an, die in den nächsten Tagen den Schlüssel zum Schrank mit dem Schmerzmittel verwalten?

Ziemlich bald ging es los Richtung Kreissaal. Ich hatte keine Ahnung, ob mein Mann seine Maschine bekommen hatte, also wollte ich wenigstens meine Lieblings-Anästhesie-Schwester im OP dabei haben. Auf Verdacht fragte ich im vorbeirollen, ob jemand ihr bescheid geben könne und tatsächlich, zehn Minuten später tauchte sie auf und erklärte, daß sie ihrem Chef schon verklickert habe, daß sie was Wichtiges zu tun habe. Im Kreissaal, machte noch ein junger Arzt eine Bemerkung über meine Beruhigungslektüre: „Fontane, hatten wir hier noch nie. Die ist bestimmt privatversichert.“ Ich schaute etwas irritiert, aber  die Hebamme, offensichtlich ein eingefleischter Fontane-Fan und Mitglied bei der AOK, war deutlich verärgert.

Hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon gewußt, was Crampas am Ende passiert, hätte ich die passende Bemerkung parat gehabt.

Die PDA war im Vergleich zum letzten Mal ein Spaziergang, bei dem ich noch nicht mal den Piekser wirklich spürte. Ich hatte den ausführenden Oberarzt auch darüber informiert, daß er beim letzten Mal Minuspunkte gesammelt habe. Er meinte zwar, jetzt sei er so richtig nervös, aber er machte seinem guten Ruf alle Ehre.

Ein Anästhesist klärte mich noch über die Risiken der PDA auf und holte meine Genehmigung ein, mir im Notfall beim Intubieren alle Zähne auszuschlagen. Dann meinte er noch, daß, sollte ich mitten im Kaiserschnitt Schmerzen bekommen,  ich eben diese Zähne ein letztes Mal zusammenbeißen müsse, bis das Kind draußen sei. Zum Zunähen würde ich dann frühestens eine Vollnarkose bekommen. Mit diesen ermutigenden Worten verließ er mich und machte Platz für einen ziemlich unrasierten Mann, der behauptete, aus Warschau zu kommen und mit mir verheiratet zu sein.

Nun stand also Davids Auftritt nichts mehr im Wege.

Wir rollten zum OP, wo man mich vom Bett auf den Tisch hievte. Ich muß sagen, für eine Dokusoap müßte das Team dieses berühmte „eins, zwei, drei“ noch etwas üben. Es war überhaupt nicht synchron und einige der Leute klangen richtig angestrengt. Dabei wog ich gerade mal lumpige achtzig Kilo.

Nun wurden Tücher gehängt und gepinselt und dann tauchte auch schon der Chef der Anästhesie auf und begrüßte mich. Bei seinem Anblick grinsten die Anästhesie-Schwester und ich uns breit an, denn dies war der Mann, der sich beim letzten Mal unbeabsichtigt mit einer Bemerkung über den Zustand meines Hinterteils in die Nesseln gesetzt hatte. Dieses Mal versuchte er lediglich, mich durch ein Gespräch davon abzulenken, daß man längst angefangen hatte mich aufzuschneiden. Aber ich hatte es trotzdem bemerkt und wollte eigentlich nur noch das Kind sehen. Das ging dann tatsächlich ziemlich schnell. Ich drückte dem Kleinen einen Kuß auf die Schnute und das wars.

Er wog 3350g und war angeblich 53 cm lang. Da meine Kinder aber beim ersten Bad alle einlaufen, war er einige Tage später auf 51cm geschrumpft. Mit einem Kopfumfang von 35cm und dem Geburtstag am 30.5. braucht man sich auch keine Gedanken mehr zu machen, was wohl Davids Lieblingszahlen sind.

Während man mich nähte, wurde ich unendlich müde. Schließlich hatte ich eine schwere Arbeit getan und David geboren.

 

 

Drei Stunden nach seiner Geburt verschluckte sich der kleine Kerl an einem Fruchtwasserrest und lief vor Schreck blau an. Deshalb schaffte man ihn auf die Intensivstation, wo er für drei Tage blieb. Es stellte sich heraus, daß es keine organischen Ursachen für den Zwischenfall gab. Nach weiteren vier Tagen in der Kinderklinik durften wir dann endlich nach Hause.